Deutschlands dunkle Seite: Woher kommt dieser Hass?

Essen. Beinahe täglich brennen Flüchtlingsheime – Woher kommt dieser Hass? Politikwissenschaftler Claus Leggewie fordert den „Aufstand der Anständigen“.

Der Zustrom von Flüchtlingen verändert das Land und das gesellschaftliche Klima. Große Hilfsbereitschaft auf der einen Seite, Ablehnung, Hass und Gewalt auf der anderen. Angesichts einer Radikalisierung fordert der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie einen „Aufstand der Anständigen“.

Täglich geschehen Angriffe auf Asylbewerberunterkünfte. Zeigt sich hier eine schon immer vorhandene Feindseligkeit oder bricht sich eine neue Wut Bahn?

Leggewie: Angriffe auf Fremde begleiten die Geschichte der Bundesrepublik von den ersten Tagen an, auch Heimatvertriebene, also ethnische Deutsche, sind damals schweren Anfechtungen ausgesetzt gewesen. Besonders ins Visier geraten sind seit den 1980er-Jahren Asylbewerber, aus dem Sozialneid heraus, dass sie Leistungen erhalten sollten, ohne etwas „eingezahlt“ oder „gearbeitet“ zu haben – ja wie denn auch, wenn ihnen das Arbeiten sogar verboten war?! Und Sinti und Roma aus eindeutig rassistischen Gründen.

In beidem lebte viel unbewusst Nazistisches fort, der alte Affekt gegen „Asoziale“. Die jüngsten Attacken stehen in dieser Tradition, über all in Europa, je östlicher je mehr, definiert sich die wiedergefundene (oder wieder erfundene) Nation exklusiv, konstruiert ein „Wir“ aus der Opposition gegen die „Anderen“, speziell Muslime. Das ist jämmerlich.

Was ratlos macht: Woher kommt dieser Hass auf Wehrlose?

Leggewie: Das ist auch nicht leicht zu fassen und zu erklären. Seit Jahren schon brauen sich in dieser reichen Überflussgesellschaft Unzufriedenheit, Verdruss und Aggression zusammen, die sich erst gegen die Regierung, dann gegen die Presse und nun gegen die Fremden wendet. Schon immer waren Außenseiter ein gern gewähltes Objekt dieser Aggression – nehmen Sie die wiederholten Angriffe auf Wohnungslose und Behinderte, die auch in der Nazi-Tradition als „unwertes Leben“ gelten.

Es sind vor allem junge und mittelalte Männer, die selbst gescheitert sind, ob nun im Privatleben oder auf dem Arbeitsmarkt, die sich an Schutzlosen abreagieren, weil sie selbst kein gutes Bild von sich haben und als gescheiterte Existenzen empfinden. Das Paradox ist, dass sich der Mob in Clausnitz als „Opfer“ fühlt und Flüchtlinge im Bus als Angreifer wertet.

Oft kommen die Brandstifter aus der „Mitte der Gesellschaft“. Wie lässt sich das erklären?

Leggewie: Unsere Untersuchungen belegen seit Langem, dass es weniger organisierte Rechte sind, die bereits durch Straftaten und Volksverhetzung aufgefallen sind, die da aktiv werden, sondern „ganz normale“ Menschen. Rassistische Einstellungen, soziale Isolierung und politische Frustration sind nicht auf den rechten Rand beschränkt.

Deutschland geht es wirtschaftlich so gut wie nie. Erleben wir mit dem Hass auf Flüchtlinge auch so etwas wie einen Konkurrenzkampf der Benachteiligten?

Leggewie: Ja, allerdings. Wenn Sigmar Gabriel die Konkurrenz zwischen Einheimischen und Geflüchteten unterstreicht, beschwört er als Vizekanzler eine Gefahr herauf, die so gar nicht besteht und die er als Wirtschaftsminister als erster aufgerufen wäre zu verhindern. Das Wohlstandsgefälle zwischen reichem Norden und armem Süden (in Essen verläuft der Sozialäquator anders herum) ist seit Jahrzehnten angewachsen, das jetzt an Flüchtlingen festzumachen ist absurd.

Und ganz konkret: Der soziale Wohnungsbau gilt für alle, und er ist seit Jahrzehnten vernachlässigt worden.

Was geschieht, wenn auch 2016 wieder über eine Million Menschen in Deutschland Zuflucht suchen?

Leggewie: Ich bin nur insofern Prophet, dass so viele kommen werden – und das geht die nächsten Jahrzehnte so weiter, weil die Unterdrückten und Entrechteten des globalen Südens an keiner Grenze mehr Halt machen werden. Deutschland wird nicht mehr die Insel der Seligen bleiben.

Wird sich die Radikalisierung verschärfen?

Leggewie: Es muss jetzt den Aufstand der Anständigen geben, damit die blödsinnigen Reden vom Niedergang Deutschlands, dem Volksverrat der Kanzlerin und der Lügenpresse ein Ende haben. Die Dummheit darf nicht noch mehr Macht bekommen.

Wie kann man dem Fremdenhass wirkungsvoll begegnen?

Leggewie: Indem man den Mut hat, ihm entschieden entgegenzutreten, wo immer man ihm begegnet. Am Arbeitsplatz oder im Supermarkt, bei Bekannten und in der Straßenbahn. Und indem die schweigende Mehrheit endlich wieder eine andere Geschichte erzählt als die vom Untergang des Abendlandes.

Viele Menschen lehnen Merkels Flüchtlingspolitik ab. Umfragen bestätigen gleichzeitig eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Wie passt das zusammen?

Leggewie: Das sind ja nicht dieselben Leute. Die Mehrheit ist für eine offene Gesellschaft und verabscheut Rassismus, eine aktive Minderheit kümmert sich um Schutzbedürftige. Das ist Deutschland, nicht das Zerrbild durchgeknallter Schwadroneure.

Viele Bürger haben Angst, dass die Fremden das Land zum Nachteil verändern. Ist das berechtigt?

Leggewie: Die Integrationsgeschichte Deutschlands beweist das Gegenteil.

Wie kann man die „Pegida-Bürger“ erreichen, sind sie noch offen für Argumente?

Leggewie: Gegen festgefahrene Ressentiments richtet Aufklärung wenig aus, aber was sonst soll man tun? Jede Verschwörungstheorie und jede Falschmeldung ist zu widerlegen.

Humanismus, Menschenrechte – trägt das nicht mehr als gesellschaftlicher Konsens?

Leggewie: Aber natürlich. Es wäre nur schön, man würde das derzeit etwas lauter und klarer vernehmen.

Quelle: Christopher Onkelbach, Deutschlands dunkle Seite: Woher kommt dieser Hass? | WAZ.de – Lesen Sie mehr auf: http://www.derwesten.de/politik/deutschlands-dunkle-seite-id11613228.html#plx207627560